Märchen

(Verkleinerungsform von mhd. mære „Erzählung, Geschichte, Bericht")
ein von den Brüdern Jakob und Wilhelm Grimm stammender und auch in andere Sprache übernommener Begriff für fantastisch-wunderbare Erzählungen.
Als Erzähltypus wird das Märchen u.a. neben Legende, Sage und Mythos zu den einfachen Formen gezählt; vom Mythos lässt es sich durch das Fehlen der Göttersphäre abgrenzen, von der Sage durch fehlende historische und geographische Bezüge, von der Legende durch das Aussparen der religiösen Dimension. Eine strikte Abgrenzung ist allerdings nicht immer möglich, da in diesen Gattungen z.T. dieselben Kompositionselemente verwendet werden. Die beiden Hauptformen des Märchens sind Volksmärchen und Kunstmärchen. Die im Volksmärchen sichtbar werdende Weltordnung ist denkbar einfach: Aus dem totalen Gegensatz der Eigenschaften der handelnden Personen (gut-böse, schön-hässlich, tapfer-feige, dumm-schlau) erwachsen Konflikte. Diese finden eine glückliche Lösung, die dem Wunschdenken von Erzähler und Zuhörer entspricht, da sie im Unterschied zu den tatsächlichen Erfahrungen mit der sozialen Umwelt das Walten einer ausgleichenden Gerechtigkeit zeigen. In der Regel ist das Märchen gekennzeichnet durch Raum- und Zeitlosigkeit, die Aufhebung der Natur- und Kausalgesetze (Verwandlungen, sprechende Tiere, Pflanzen, Gegenstände), das Auftreten von Fabelwesen (Riesen, Zwerge, Hexen, Drachen usw.), die Zentrierung auf Heldin oder Held, Handlungsstereotype (Auszug, Vertreibung, Missachtung des Helden, seine Bewährung durch Aufgaben- oder Rätsellösung), einen stereotypen Schluss (Sieg des Guten, Wiederherstellung einer harmonischen Ordnung durch z.T. grausame Bestrafung des Bösen) sowie formelhafte Wendungen am Anfang („Es war einmal …“) und am Ende („und wenn sie nicht gestorben sind …“). Ferner tauchen bestimmte Symbolzahlen – z.B. drei Wünsche, drei Aufgaben, sieben Zwerge – immer wieder auf, auch bedient es sich gern eines typisierten Personals (König, Königstochter, böse Schwestern, Stiefmütter usw.). Das Volksmärchen ist eine der ältesten Überlieferungen der Menschheit überhaupt. Die ältesten heute bekannten Vorformen des Märchens (Epos) stammen aus dem Orient. In der Romantik wurden Volksmärchen systematisch gesammelt. Die Kinder- und Hausmärchen (1812–1815) der Brüder Grimm gelten als die erste planmäßige und wissenschaftliche Sammlung, in die auch Tiergeschichten, Fabeln, Legenden, Novellen, Schwänke, Lügengeschichten usw. mit einbezogen wurden. Ebenfalls in der Romantik entstanden bekannte Kunstmärchen, die sich in der Wertschätzung des Naiven, Volksnahen häufig den Volksmärchen anglichen, aber auch satirische (vgl. Ludwig Tieck) und dämonische Elemente (Hoffmann) und philosophische Einsichten wie z.B. bei Novalis enthielten.

Formale Merkmale (am Beispiel von „Jorinde und Joringel")

Jorinde und Joringel    formale Merkmale 
Es war einmal ein altes Schloss …    Formelhafte Wendung am Anfang 
…, das war eine Erzzauberin.    Auftreten von Fabelwesen 
Am Tag machte sie sich zur Katze oder zur Nachteule, des abends aber wurde sie wieder ordentlich wie ein Mensch gestaltet.    Aufhebung der Natur- und Kausalgesetze


 
Nun war einmal eine Jungfrau, die hieß Jorinde; sie war schöner als alle anderen Mädchen …… kam eine alte krumme Frau …, gelb und mager, große rote Augen, krumme Nase, die mit der Spitze ans Kinn reichte.    totaler Gegensatz der Eigenschaften der handelnden Personen




 
Eine Nachteule mit glühenden Augen flog dreimal um sie herum, und schrie dreimal schu, hu, hu, hu.    Verwendung von Symbolzahlen


 
… er fiel vor dem Weib auf die Knie und bat, sie möchte ihm seine Jorinde wiedergeben: aber sie sagte, er solle sie nie wieder haben, und ging fort.    zentraler Konflikt



 
Da machte er auch alle die anderen Vögel wieder zu Jungfrauen, und da ging er mit seiner Jorinde nach Hause, und sie lebten lange vergnügt zusammen.    glückliche Lösung; formelhafte Wendung am Schluss


 

Beispiel

Brüder Grimm
Jorinde und Joringel (1812/15)

Es war einmal ein altes Schloss mitten in einem großen dicken Wald, darinnen wohnte eine alte Frau ganz allein, das war eine Erzzauberin. Am Tage machte sie sich zur Katze oder zur Nachteule, des Abends aber wurde sie wieder ordentlich wie ein Mensch gestaltet. Sie konnte das Wild und die Vögel herbeilocken, und dann schlachtete sies, kochte und bratete es. Wenn jemand auf hundert Schritte dem Schloss nahe kam, so musste er still stehen und konnte sich nicht von der Stelle bewegen, bis sie ihn lossprach: Wenn aber eine keusche Jungfrau in diesen Kreis kam, so verwandelte sie dieselbe in einen Vogel, und sperrte sie dann in einen Korb ein, und trug den Korb in eine Kammer des Schlosses. Sie hatte wohl sieben tausend solcher Körbe mit so raren Vögeln im Schlosse. Nun war einmal eine Jungfrau, die hieß Jorinde; sie war schöner als alle andere Mädchen, die, und dann ein ganz schöner Jüngling, namens Joringel, hatten sich zusammen versprochen. Sie waren in den Brauttagen, und sie hatten ihr größtes Vergnügen eins am andern. Damit sie nun einsmalen vertraut zusammen reden könnten, gingen sie in den Wald spazieren. „Hüte dich“, sagte Joringel, dass du nicht so nahe ans Schloss kommst. „Es war ein schöner Abend, die Sonne schien zwischen den Stämmen der Bäume hell ins dunkle Grün des Waldes, und die Turteltaube sang kläglich auf den alten Maibuchen. Jorinde weinte zuweilen, setzte sich hin im Sonnenschein und klagte. Joringel klagte auch: Sie waren so bestürzt, als wenn sie hätten sterben sollen: Sie sahen sich um, waren irre, und wussten nicht wohin sie nach Hause gehen sollten. Noch halb stand die Sonne über dem Berg, und halb war sie unter. Joringel sah durchs Gebüsch, und sah die alte Mauer des Schlosses nah bei sich; er erschrak und wurde todbang. Jorinde sang

„mein Vöglein mit dem Ringlein rot
singt Leide, Leide, Leide:
es singt dem Täublein seinen Tod,
singt Leide, Lei – zicküth, zicküth, zicküth.“

Joringel sah nach Jorinde. Jorinde war in eine Nachtigall verwandelt, die sang zicküth, zicküth. Eine Nachteule mit glühenden Augen flog dreimal um sie herum, und schrie dreimal schu, hu, hu, hu. Joringel konnte sich nicht regen: Er stand da wie ein Stein, konnte nicht weinen, nicht reden, nicht Hand noch Fuß regen. Nun war die Sonne unter: Die Eule flog in einen Strauch und gleich darauf kam eine alte krumme Frau aus diesem hervor, gelb und mager, große rote Augen, krumme Nase, die mit Spitze ans Kinn reichte. Sie murmelte, fing die Nachtigall, und trug sie auf der Hand fort. Joringel konnte nichts sagen, nicht von der Stelle kommen; die Nachtigall war fort. Endlich kam das Weib wieder, und sagte mit dumpfer Stimme „grüß dich, Zachiel, wenns Möndel ins Körbel scheint, bind los, Zachiel, zu guter Stunde“. Da wurde Joringel los: Er fiel vor dem Weib auf die Knie und bat, sie möchte ihm seine Jorinde wieder geben: Aber sie sagte, er sollte sie nie wieder haben, und ging fort. Er rief, er weinte, er jammerte, aber alles umsonst. „Uu, was soll mir geschehn?“ Joringel ging fort, und kam endlich in ein fremdes Dorf: Da hütete er die Schafe lange Zeit. Oft ging er rund um das Schloss herum, aber nicht zu nahe dabei: Endlich träumte er einmal des Nachts er fänd eine blutrote Blume, in deren Mitte eine schöne große Perle war: Die Blume brach er ab, ging damit zum Schlosse: Alles, was er mit der Blume berührte, ward von der Zauberei frei: Auch träumte er, er hätte seine Jorinde dadurch wieder bekommen. Des Morgens, als er erwachte, fing er an, durch Berg und Tal zu suchen, ob er eine solche Blume fände: Er suchte bis an den neunten Tag, da fand er die blutrote Blume am Morgen früh. In der Mitte war ein großer Tautropfe, so groß wie die schönste Perle. Diese Blume trug er Tag und Nacht bis zum Schloss. Wie er auf hundert Schritt nahe zum Schloss kam, da ward er nicht fest, sondern ging fort bis ans Tor. Joringel freute sich hoch, berührte die Pforte mit der Blume, und sie sprang auf. Er ging hinein, durch den Hof, horchte wo er die vielen Vögel vernähme; endlich hörte ers. Er ging und fand den Saal, darauf war die Zauberin, und fütterte die Vögel in den sieben tausend Körben. Wie sie den Joringel sah, ward sie bös, sehr bös, schalt, spie Gift und Galle gegen ihn aus, aber sie konnte auf zwei Schritte nicht an ihn kommen. Er kehrte sich nicht an sie, und ging, besah die Körbe mit den Vögeln; da waren aber viele hundert Nachtigallen, wie sollte er nun seine Jorinde wieder finden? Indem er so zusah, merkte er, dass die Alte heimlich ein Körbchen mit einem Vogel nimmt, und damit nach der Türe geht. Flugs sprang er hinzu, berührte das Körbchen mit der Blume und auch das alte Weib: Nun konnte sie nichts mehr zaubern und Jorinde stand da, hatte ihn um den Hals gefasst, so schön wie sie ehemals war. Da machte er auch alle die andern Vögel wieder zu Jungfrauen, und da ging er mit seiner Jorinde nach Hause, und sie lebten lange vergnügt zusammen.


Aus: Kinder- und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm. Zürich (Manesse) 2002.