Jede europäische Nationalliteratur hat ihre klassische Epoche. Man versteht darunter die Periode, in der in dichter Fülle und reicher Entfaltung Werke von Rang erscheinen, die prägende Wirkung auf die Kultur des Landes und internationales Ansehen gewinnen. Diese Zeiten eines literarischen Höhenkamms fallen in den verschiedenen Ländern in ganz unterschiedliche Epochen. In Italien ist es die Renaissance mit ihren Nachwirkungen (1300–1600), eingerahmt von den Dichtern
Dante und
Tasso; in England ist es das sog. elisabethanische Zeitalter (16. Jahrhundert) mit dem alles überragenden
William Shakespeare; in Frankreich schließlich ist es das 17. Jahrhundert um das Dreigestirn
Corneille,
Racine und
Molière. Die deutsche Klassik weicht von den genannten europäischen Pendants auf dreifache Weise ab: Sie kommt mit deutlicher zeitlicher Verzögerung, sie umfasst nur einen sehr kurzen Zeitraum, nämlich den von 1786 (
Goethes Italienreise, die zu dessen Neuentdeckung der Antike führte) bis 1805 (Tod
Schillers), und sie bleibt auf die Werke dieser beiden Autoren beschränkt. Gleichzeitig entstandene Produkte anderer Schriftsteller (
Wieland,
Hölderlin,
Jean Paul,
Kleist) werden von der Literaturgeschichtsschreibung in der Regel der
Aufklärung oder der
Romantik zugeordnet. Aber auch das Frühwerk Goethes und Schillers, das zum
Sturm und Drang gehört, ebenso wie das Spätwerk Goethes fallen nicht unter die Klassik und ihr Literaturkonzept, das die beiden Dichter in zeitweiliger Zusammenarbeit in Weimar entwickelten.
In deutlicher Abkehr von ihren Sturm-und-Drang-Idealen hießen die neuen Wertmaßstäbe:
Maß,
Gesetz und
Formstrenge. Der Natur-, Gefühls- und Geniekult wurde aufgegeben zugunsten einer Neuorientierung auf Vernunft, Selbstzucht und sittliche Läuterung des Menschen hin. Die allseits gebildete, alle humanen Kräfte und Fähigkeiten harmonisch in Einklang bringende Persönlichkeit im Dienste der gesamten Menschheit schwebte den Klassikern als Ergebnis ihrer literarischen Bildungsarbeit vor. Ihr ästhetisches Programm war, wie das der Aufklärung, Erziehungsprogramm, aber nicht im Sinne direkt belehrender Ansprache an Verstand und Einsicht zur Erweiterung der Kenntnisse und zur Anleitung vernünftigen Handelns. Vielmehr ging es darum, das vollendet Schöne zu formen, weil durch die Anschauung des wahrhaft
Schönen der Mensch zum
Wahren und
Guten, zur Veredelung seiner Denkungsart und seines Charakters gelangt. Schönheit wird als Harmonie zwischen dem Sinnlichen, das der Triebwelt zugehört, und dem Gesetz der Vernunft, das Freiheit bedeutet, verstanden. Es geht in den Werken der Klassik nicht um die Abbildung der Lebenswirklichkeit, um Wiedergabe eines gemütserregenden Erlebnisses, aber auch nicht um die kunstreiche Einkleidung eines Lehrsatzes oder einer Moral, sondern es geht um die Wahrheit. Sie erfährt der Mensch nach klassischer Theorie, wenn er in der sinnlich wahrnehmbaren individuellen Erscheinung durch künstlerische Gestaltung das Allgemeine erkennt, wenn andererseits dem Allgemeinen, also der Idee oder einem Prinzip, durch die individuelle Gestalt des sinnlich erfahrbaren Kunstwerks Leben verliehen wird.
Die Vorbilder für die Harmonie vollendeter künstlerischer Gestaltung sahen die deutschen Klassiker in den Werken der griechischen Antike. Die
freien Rhythmen und die auf individuellen Ausdruck bedachte Prosasprache des Sturm und Drang wich metrisch regelmäßig gebauten
Versen und einer nach strengen Kunstgesetzen durchformten Sprache.
Die Abwendung von der Wirklichkeit hin zum Reich der Utopie des ewig Wahren, Guten und Schönen und das Konzept der ästhetischen Erziehung zur Veredelung des individuellen Charakters gründete ganz wesentlich in der Enttäuschung über die von Gewalt und Krieg geprägte Entwicklung der Französischen Revolution, deren Beginn die bürgerlichen deutschen Dichter mit Interesse und Anteilnahme verfolgt hatten. In einer politischen Umwälzung solcher Art vermochten sie kein Heil mehr für die durchaus als bedrückend empfundenen gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland zu sehen.