Kalendergeschichte

kürzere, meist lehrhafte Erzählung.
Die Kalendergeschichte sollte in früheren Zeiten der Erbauung und Belehrung einer breiten, vor allem auch ländlichen Leserschaft dienen und hatte so eine damals nicht zu unterschätzende soziale Funktion, da andere Literatur nur von höheren Ständen (Adel, Geistliche, gebildetes Bürgertum) gelesen wurde. Neben Bibel und religiösen Traktaten war der Kalender, dem u. a. praktische Hinweise, Rezepte beigegeben waren, die einzige Lektüre, die in bäuerlichen Gegenden gelesen wurde. Die Bezeichnung „Kalender“ in diesem Sinn ist zuerst für das Jahr 1470 nachgewiesen. In der Folgezeit wird dem Kalender außer Jahresdaten und astronomischen Angaben ein moralisch-belehrender Anhang beigegeben, der Schwänke, Legenden und zunächst sehr anspruchslose, später aber auch dichterisch gestaltete Erzählungen enthält. Herausragende Beispiele sind: „Der ewig währende Kalender“ (1670), die Jahreskalender und der „Simplizianische Wunderkalender“ von Grimmelshausen (1669–1673), Hebels „Rheinländischer Hausfreund“ und die Kalender von Gotthelf.
Im 20. Jh. haben O. M. Graf (1929) und Brecht (1949) Kalendergeschichten veröffentlicht. Bei Brecht ist die Bezeichnung Kalendergeschichte allerdings eine Umkehrung der ursprünglich beabsichtigten Erbaulichkeit. In oft ironischer Form will allerdings auch Brecht im Sinne seiner gesellschaftlichen und emanzipatorischen Intentionen belehren. Die Kalendergeschichten Brechts sind verglichen mit anderen Prosatexten einfacher, was das Verständnis anbelangt, sodass auch hier die Absicht der Wirkung auf ein breiteres Publikum nachzuweisen ist.

Eigenschaften

Beispiel

Johann Peter Hebel
Der verachtete Rat (1811)

Man darf nie weniger geschwind tun, wenn etwas geschehen soll, als wenn man auf die Stunde einhalten will.
Ein Fußgänger auf der Basler Straße drehte sich um und sah einen wohlbeladenen Wagen schnell hinter sich hereilen. „Dem muss es nicht arg pressieren“, dachte er. – „Kann ich vor Torschluss noch in die Stadt kommen?“, fragte ihn der Fuhrmann. – „Schwerlich“, sagte der Fußgänger, „doch, wenn Ihr recht langsam fahrt, vielleicht. Ich will auch noch hinein.“ – „Wie weit ist's noch?“ – „Noch zwei Stunden.“ – „Ei“, dachte der Fuhrmann, „das ist einfältig geantwortet. Was gilt's, es ist ein Spaßvogel. Wenn ich mit Langsamkeit mit zwei Stunden hineinkomme", dachte er, „so zwing ich's mit Geschwindigkeit in anderthalben und hab's desto gewisser.“ Also trieb er die Pferde an, dass die Steine davonflogen und die Pferde die Eisen verloren.
Der Leser merkt etwas.
„Was gilt's,“, denkt er, „es fuhr ein Rad vom Wagen?“ Es kommt dem Hausfreund auch nicht darauf an. Eigentlich aber, um die Wahrheit zu sagen, brach die hintere Achse. Kurz, der Fuhrmann musste schon im nächsten Dorf über Nacht bleiben. An Basel war nimmer zu denken.
Der Fußgänger aber, als er nach einer Stunde durch das Dorf ging und ihn vor der Schmiede erblickte, hob er den Zeigefinger in die Höhe. „Hab ich Euch nicht gewarnt“, sagte er, „hab ich nicht gesagt: Wenn Ihr langsam fahrt?“


Aus: Johann Peter Hebel: Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes. Nachdruck der Ausgabe von 1811. Hrsg. von J. Knopf. Frankfurt/M. (Insel) 1984.