Volksstück

Volksstück ist in weiterem Sinn ein Sammelbegriff für dramatische Formen wie Schwank, Posse, Bauerndrama. Es hat aber auch eigene komische und ernste Ausprägungen. Das Volksstück geht zurück auf Produktionen für ein Theater „für das Volk und über das Volk“. Die Bezeichnung wurde ab etwa 1850 für volkstümliche, leicht verständliche Stücke gebräuchlich, in denen Figuren aus dem Volk sprechen und handeln. Das Handlungsmuster des Volksstücks folgt oft dem der Komödie, des bürgerlichen Trauerspiels oder des sozialen Dramas. Häufig sind Einlagen wie Musik, Gesang und Tanz eingearbeitet.
Im Wiener Volkstheater setzte sich die barocke Tradition der Posse mit ihren festen Charakteren (z.B. Hanswurst, Staberl, Kasperl) fort.
Um die Jahrhundertwende übernahm der Naturalismus in seinen Dramen inhaltliche wie formale Wesensmerkmale des Volksstücks, so etwa den Dialekt. Dafür steht in Bayern Ludwig Thoma, der mit seinem Stück „Magdalena“ (1912) die verlogene Moral einer scheinbar intakten Dorfgemeinschaft anprangert.
Im 20. Jh. setzte sich die trivial-unterhaltende Form des heutigen Boulevardtheaters durch, das Volksstück wird jedoch immer wieder in der Literatur aufgegriffen, wie etwa auch bei Brecht und Carl Zuckmayer mit seinen sozialsatirischen Stücken „Der fröhliche Weinberg“ (1925), „Schinderhannes“ (1927) und „Der Hauptmann von Köpenick“ (1930). „Fegefeuer in Ingolstadt“ (1926), das ein Bild der kleinbürgerlichen Gesellschaft in der Zwischenkriegszeit in der Provinz entwirft, und „Pioniere in Ingolstadt“ (1928) von Marieluise Fleißer wurden in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre wiederentdeckt.

Ideal und Wirklichkeit

Beispiel

Ludwig Thoma
Magdalena (1912)
Auszug aus der ersten Szene

Thomas Mayr tritt von rechts langsam ein, in Hemdsärmeln. Er hat die blaue Arbeitsschürze vorgebunden und aufgeschlagen. Er nimmt seinen Hut ab und hängt ihn an einen Haken des Kleiderrahmens. Mariann hebt etwas müde den Kopf und lächelt ihm zu.
Mariann Bist du da, Thomas?
Thomas Amal nachschaug'n, wia's dir geht.
Mariann Daß du weg'n meiner von der Arbet weggehst?
Thomas I ko di net allaweil alloa lass'n.
Mariann Dös hätt's net braucht. Kummt ja d' Nachbarin fleißig rüber.
Thomas No ja, es treibt mi halt hoam.
Mariann D' Nachbarin sagt, im Stall is all's in Richtigkeit, und an Gart'n hat s' mir aa gossen. Sie is scho a guat's Leut.
Thomas Ja - ja.
Mariann Wia steht's denn im Feld drauß'n? Kimmt d' Gerst'n guat rei?
Thomas Net b'sunders; an Hagel spürt ma stark.
Mariann Dös is arg.
Thomas Von mir aus! Was frag i danach?
Mariann Geh weiter! Was host d' denn?
Thomas I sag's, wia's is; dös bekümmert mi ganz wenig.
Mariann So muaßt d' net red'n; du bist ja sunst net so g'wesen.
Thomas Sunst! Ablenkend Und was machst denn du? Geht's a bissel leichter mit'n Schnauf'n?
Mariann M - m — es is allaweil dös gleiche.
Thomas Hat der Dokta nix g'sagt, daß er dir helfa ko?
Mariann Er red't halt so rum, weil er mir d' Wahrheit net sag'n mag. Pause. Thomas setzt sich auf die Bank vor den Ofen, legt die Arme auf die Knie und schaut vor sich hin, dann wendet er sich Mariann zu.
Thomasbekümmert Muatta, moanst d', du werst gar nimma?
Mariannschlicht Na, Thomas. Und es is g'scheiter aa, wenn's bald z' End geht. Schau, was is denn? Zu der Arbet taug i do nix mehr, und i mach dir grad Kosten.
Thomas Daß du jetzt weg muaßt!
Mariann Sag selber, was tua i do, wann i zu nix mehr nutz bin? Mi bekümmert's a so, daß du für'n Dokta so viel zahl'n muaßt.
Thomas Wer red't von dem?
Mariann Und mei Leich kost' di no mal a schöns Geld.
Thomas Da braucht di nix reu'n.
Mariann Wenn ma si do an jed'n Grosch'n hart verdeana muß.
Thomas Es braucht di net reu'n; für wen soll denn i spar'n?
Mariannin sich gekehrt Ja - ja. Pause. Thomas rückt mit der Bank näher zu Mariann und nimmt ihre Hand in die seine.
Thomas Wia lang san mir beinander g'wesen, alte Mariann?
Mariannmit einem guten Lächeln Auf Martini san's sieb'nadreißig Jahr g'wesen, und etla Woch'n davor hast du's Sach übernomma g'habt.
Thomas Mit viel Schuld'n, han? Und hast di do traut mit mir?
Mariann Und du di mit mir. I hab ja aa nix g'habt als a Paar feste Hand.
Thomas Is viel Arbet g'wes'n umadum, und is letz g'wesen, aber do schö.
Mariann Und hat mi koan Tag net g'reut. Pause.
Thomas Und jetzt willst d' geh?
Mariann Woll'n? I wer halt aa net g'fragt.
Thomasherzlich Bist mei guate Kameradin g'wesen.
Mariann Dös Zeugnis muaßt d' mir geb'n, gel? Ihre Hände betrachtend. G'arbet hab i allaweil gern.
Thomas Und hast all's in Ordnung g'halt'n.
Mariannstill All's?
Thomas Was si halt'n laßt. Stärker betonend. Ja, Muatta.
Mariann Aba jetzt werd's Zeit, daß i Feierabend mach.
Thomas Und mi laßt d' alloa ...
Mariann Vielleicht. . . Stockt. Vielleicht bist d' do net ganz alloa?
Thomasfinster Laß s guat sei; über dös soll'n mir net red'n.
Mariann I muaß red'n mit dir. I hab jetzt so viel Zeit zum Nachdenk'n, schaug - und da denk i mir oft, ob mir net aa schuld san, daß unser Madl schlecht worn is.
Thomas Wia denn? Hat de bei uns a schlecht's Beispiel g'habt?
Mariann Aba in d' Stadt hätt'n mir's net nei' lass'n soll'n.

Aus: Ludwig Thoma: Magdalena. München (Piper) 1985.