Fantastische Literatur

erzählende Literatur, die die Gegebenheiten und Gesetze der realen Welt bewusst außer Kraft setzt. Im Gegensatz zu Märchen, Fabeln, Sagen, Schauer- und Science-Fiction-Romanen, wo sich der Leser mühelos auf fremde, unbekannte Welten einlässt, trägt die fantastische Literatur die Maske des Alltäglichen, das Übernatürliche bricht unvermittelt herein. Dabei werden traditionell unheimliche Ereignisse dargestellt (z.B. Geistererscheinungen, Verwandlungen von Lebewesen, Verschwinden von Gegenständen), die nicht logisch erklärbar sind, den Naturgesetzen widersprechen und gerade deshalb den Leser verunsichern und ihn schaudern machen.
In Deutschland führte schon Hoffmann, von Zeitgenossen als „Gespenster-Hoffmann“ verspottet, Elemente des Unheimlichen in seine Erzählungen ein. In Frankreich waren es Théophile Gautier und Gerard de Nerval, die sich des unvermittelten Grauens annahmen, in den USA vor allem Ambrose G. Bierce und Poe. Um die Wende zum 20. Jh. ist vor allem in Österreich eine Wiederbelebung der fantastischen Literatur festzustellen: Die Décadence-Stimmung des ausgehenden Jh.s und der sich abzeichnende Untergang des Habsburger Reiches machten viele Menschen empfänglich für Übersinnliches.
Zum Genre der klassischen fantastischen Literatur zählt man im deutschsprachigen Raum vor allem die Werke der österreichischen Autoren Gustav Meyrink, Leo Perutz und Alfred Kubin.
Zur fantastischen Trivialliteratur zählen die Horrorgeschichten von Stephen King, die vor dem Hintergrund einer banalen amerikanischen Mittelstandsgesellschaft bizarre Einbrüche des Übersinnlichen in eine als sicher geglaubte Alltagswelt aufzeigen („Friedhof der Kuscheltiere“, 1986; „Es“, 1986; „Sie“, 1987).

Charakteristikum Fantastischer Literatur

Beispiel

Franz Kafka
Die Verwandlung (1915)
Auszug

I

Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen.
‚Was ist mit mir geschehen?', dachte er. Es war kein Traum. Sein Zimmer, ein richtiges, nur etwas zu kleines Menschenzimmer, lag ruhig zwischen den vier wohl bekannten Wänden. Über dem Tisch, auf dem eine auseinander gepackte Musterkollektion von Tuchwaren ausgebreitet war – Samsa war Reisender –, hing das Bild, das er vor kurzem aus einer illustrierten Zeitschrift ausgeschnitten und in einem hübschen, vergoldeten Rahmen untergebracht hatte. Es stellte eine Dame dar, die, mit einem Pelzhut und einer Pelzboa versehen, aufrecht dasaß und einen schweren Pelzmuff, in dem ihr ganzer Unterarm verschwunden war, dem Beschauer entgegenhob.
Gregors Blick richtete sich dann zum Fenster und das trübe Wetter – man hörte Regentropfen auf das Fensterblech aufschlagen – machte ihn ganz melancholisch. ‚Wie wäre es, wenn ich noch ein wenig weiterschliefe und alle Narrheiten vergäße', dachte er, aber das war gänzlich undurchführbar, denn er war gewöhnt auf der rechten Seite zu schlafen, konnte sich aber in seinem gegenwärtigen Zustand nicht in diese Lage bringen. Mit welcher Kraft er sich auch auf die rechte Seite warf, immer wieder schaukelte er in die Rückenlage zurück. Er versuchte es wohl hundertmal, schloss die Augen um die zappelnden Beine nicht sehen zu müssen und ließ erst ab, als er in der Seite einen noch nie gefühlten, leichten, dumpfen Schmerz zu fühlen begann.


Aus: Franz Kafka: Die Verwandlung. In: ders.: Erzählungen. Gesammelte Werke in acht Bänden. Hrsg. von M. Brod. Frankfurt/M. (Fischer) 1983.