Naturalismus (ca. 1880 – ca. 1900)

Ende des 19. Jahrhunderts war es dem wilhelminischen Obrigkeitsstaat, der mit dem kapitalistischen Bürgertum ein enges Bündnis eingegangen war, trotz einiger Sozialgesetze nicht gelungen, die Arbeiterschaft, die sich auf Grund der rapide beschleunigten Industrialisierung enorm vergrößert hatte, gesellschaftlich zu integrieren. Dem Kampf der Arbeiter um ökonomische Verbesserungen sowie soziale und politische Rechte begegnete die Reichsregierung mit dem so genannten „Sozialistengesetz" von 1878, das die Betätigung in sozialdemokratischen Vereinen u. Ä. verbot; erst 1890 musste dieses Gesetz auf Druck der inzwischen angewachsenen oppositionellen Kräfte zurückgenommen werden. Zu diesen Kräften gehörte auch eine neue Kunst- und Literaturrichtung, welche schonungslos die Verhältnisse in allen gesellschaftlichen Bereichen aufdecken wollte. Was den bürgerlichen Realisten der Jahrhundertmitte als Thema noch verpönt gewesen war, wie zum Beispiel die Elendsquartiere der Großstädte, das Milieu der Fabriken, Mietskasernen und Kneipen, wurde zu einem Hauptgegenstand dieser literarischen Richtung. Die Autoren, die sich zum Teil zu Gruppen und Vereinigungen wie das „Jüngste Deutschland" (Anknüpfung an das „Junge Deutschland" des Vormärz) zusammenschlossen, wollten mit ihren naturalistischen Darstellungen das Lesepublikum aufrütteln und sympathisierten mit den gesellschaftspolitischen Zielen der Arbeiterschaft, ohne sich allerdings parteilich zu binden. Sie verstanden sich mehrheitlich in erster Linie als literarische Avantgarde, der es um eine moderne Kunst ging. Ohne Rücksichten auf traditionelle Grenzen des so genannten guten Geschmacks und auf bürgerliche Kunstauffassungen sollten Wirklichkeitsausschnitte möglichst in einer Deckungsgleichheit zwischen Realität und Abbild wiedergegeben werden. Dazu gehörte auch, dass die Literatur die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse der Soziologie, Psychologie und Biologie verarbeitete. Eine wesentliche stilistische Neuerung war, dass Umgangssprache, Jargon und Dialekt in nie gekanntem Ausmaß Einzug in die Literatur hielten. Der individuelle Held, der autonome Einzelne, der sich frei entscheiden kann, steht nicht länger im Mittelpunkt der Erzählungen und Dramen, sondern ein Kollektiv (wie die Weber in Hauptmanns gleichnamigem Stück) oder der durch Herkunft, Milieu und Zeitumstände determinierte Mensch. In Verbindung mit der gesellschaftskritisch wirkenden Literatur des Naturalismus verschaffte sich die seit dem Vormärz lebendige Frauenbewegung verstärkt Gehör. Die Schriften Hedwig Dohms und anderer feministischer Autorinnen stritten für die Gleichberechtigung auf allen Stufen der Ausbildung, in der Arbeitswelt und in der Frage des Wahlrechts. Dass von den ca. 5000 Schriftstellerinnen, die man 1898 zählte, heute so wenige in den Literaturgeschichten und in den Bibliotheken zu finden sind, obwohl viele von ihnen damals durchaus erfolgreich waren, hat damit zu tun, dass Literaturgeschichtsschreibung und Pflege des literarischen Erbes männliche Domänen blieben. In diesen Zusammenhang passt, dass es einigen Autorinnen, besonders wenn sie Dramen verfassten, ratsam erschien, unter männlichen Pseudonymen zu veröffentlichen, um literarisch erfolgreich zu sein, z.B. ihre Stücke auf die Bühnen zu bringen.

Epoche und geschichtliche Hintergründe

Wichtige Autorinnen/Autoren und Werke

Hedwig Dohm (1833–1919): Der Seelenretter (Komödie); Sibilla Dalmar (Roman); Der Frauen Natur und Recht
Helene Böhlau (1856–1940): Die alten Leutchen (Novelle); Das Recht der Mutter (Roman)
Gerhart Hauptmann (1862–1946): Vor Sonnenaufgang; Die Weber; Fuhrmann Henschel; Rose Bernd; Die Ratten (Dramen); Der Biberpelz (Komödie); Bahnwärter Thiel (Erzählung)
Arno Holz (1863–1929) / Johannes Schlaf (1862–1941): Familie Selicke (Drama); Papa Hamlet (Roman)