Novelle

(von ital. novella „kleine Neuigkeit")
eine Geschichte, in der eine dramatische bzw. "unerhörte Begebenheit" (Goethe) erzählt wird, die einen Wendepunkt im Leben eines Menschen bedeuten kann. Die Novelle gehört zu den epischen Klein- und Kurzformen (Epik).
Seit der Renaissance – vor allem bezüglich Giovanni Boccaccios (1313–1375) „Il Decamerone“ – wird der Begriff als literarischer Gattungsbegriff verwendet. Die Definition ist aber keineswegs eindeutig. Obwohl es keinen Idealtypus der Novelle gibt, treffen folgende Merkmale im Allgemeinen für diese Gattungsform zu:


Um 1800 begann in der dt. Literatur die Auseinandersetzung mit Begriff und Inhalt der Novelle. Goethe bezeichnet sie als „eine sich ereignende unerhörte Begebenheit“, während Tieck insbesondere das Auftreten eines überraschenden „Wendepunkts“ betont. Storm nannte die Novelle als „strengste Form der Prosadichtung“ die „Schwester des Dramas“. Romantik und Realismus entwickelten sie durch Vertiefung des seelischen Konflikts und virtuose Beherrschung der Form zu höchster Vollendung (z.B. Storm, Der Schimmelreiter).

Merkmale

Beispiel

Theodor Storm
Der Schimmelreiter (1888)
Auszug

Was ich zu berichten beabsichtige, ist mir vor reichlich einem halben Jahrhundert im Hause meiner Urgroßmutter, der alten Frau Senator Feddersen, kundgeworden, während ich, an ihrem Lehnstuhl sitzend, mich mit dem Lesen eines in blaue Pappe eingebundenen Zeitschriftenheftes beschäftigte; ich vermag mich nicht mehr zu entsinnen, ob von den „Leipziger“ oder von „Pappes Hamburger Lesefrüchten“. Noch fühl ich es gleich einem Schauer, wie dabei die linde Hand der über Achtzigjährigen mitunter liebkosend über das Haupthaar ihres Urenkels hinglitt. Sie selbst und jene Zeit sind längst begraben; vergebens auch habe ich seitdem jenen Blättern nachgeforscht, und ich kann daher umso weniger weder die Wahrheit der Tatsachen verbürgen, als, wenn jemand sie bestreiten wollte, dafür aufstehen; nur so viel kann ich versichern, dass ich sie seit jener Zeit, obgleich sie durch keinen äußeren Anlass in mir aufs Neue belebt wurden, niemals aus dem Gedächtnis verloren habe.
Es war im dritten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts, an einem Oktobernachmittag – so begann der damalige Erzähler –, als ich bei starkem Unwetter auf einem nordfriesischen Deich entlangritt. Zur Linken hatte ich jetzt schon seit über einer Stunde die öde, bereits von allem Vieh geleerte Marsch, zur Rechten, und zwar in unbehaglichster Nähe, das Wattenmeer der Nordsee; zwar sollte man vom Deiche aus auf Halligen und Inseln sehen können; aber ich sah nichts als die gelbgrauen Wellen, die unaufhörlich wie mit Wutgebrüll an den Deich hinaufschlugen und mitunter mich und das Pferd mit schmutzigem Schaum bespritzten; dahinter wüste Dämmerung, die Himmel und Erde nicht unterscheiden ließ; denn auch der halbe Mond, der jetzt in der Höhe stand, war meist von treibendem Wolkendunkel überzogen. Es war eiskalt; meine verklommenen Hände konnten kaum den Zügel halten und ich verdachte es nicht den Krähen und Möwen, die sich fortwährend krächzend und gackernd vom Sturm ins Land hineintreiben ließen. Die Nachtdämmerung hatte begonnen und schon konnte ich nicht mehr mit Sicherheit die Hufen meines Pferdes erkennen; keine Menschenseele war mir begegnet, ich hörte nichts als das Geschrei der Vögel, wenn sie mich oder meine treue Stute fast mit den langen Flügeln streiften, und das Toben von Wind und Wasser. Ich leugne nicht, ich wünschte mich mitunter in sicheres Quartier.
[…]

Aus: Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Novelle. Text und Materialien bearbeitet von Herbert Fuchs und Ekkehart Mittelberg. Berlin (Cornelsen) 1980.