Tagebuch

tägliche oder zumindest regelmäßige chronologische Aufzeichnungen eines Autors sowohl aus seinem persönlichen Umfeld und gegenwätigen Schaffen als auch generell zum aktuellen Zeitgeschehen.
Die Darstellungsformen der monologischen Prosatexte eines Tagebuchs, das häufig eine wichtige Geschichtsquelle ist, können aus Kurznotizen, flüchtigen Skizzen (die oft als Grundlage für spätere Autobiographien dienen), Fragmenten oder längeren essayistischen Abhandlungen bestehen. Die Tradition des Tagebuchschreibens pflegten u.a. so berühmte Schriftsteller wie Charles Baudelaire, Brecht, Lord Byron, Eichendorff, Goethe, Hoffmann, Hofmannsthal, Kafka, Th. Mann, Friedrich Nietzsche, Rilke, Schnitzler und Tolstoi. Weltberühmt wurde das „Tagebuch der Anne Frank“ (deutsch 1950), in dem die gleichnamige jüdische Schriftstellerin in Briefform an eine fiktive Freundin über ihr Leben in einem Hinterhausversteck in Holland und ihre Eindrücke von der Besatzungszeit berichtet. Das Werk wurde in fast alle Kultursprachen übersetzt und mehrfach verfilmt; auch eine Bühnenfassung liegt vor.
Grundsätzlich unterscheidet man zwischen authentischen (= „echten") und fingierten (= vorgetäuschten) Tagebüchern. Authentische Tagebücher, besonders aus früheren Epochen, z.B. das „Tagebuch eines Pariser Bürgers 1405–1449“, haben vornehmlich Privates zum Inhalt und sind v.a. von kulturhistorischer Bedeutung. Das so genannte literarische Tagebuch berücksichtigt die Möglichkeit einer späteren Veröffentlichung, gelegentlich fehlt ihm dadurch der Reiz der Spontaneität und des Unfertigen. Literarische Tagebücher ermöglichen jedoch einen Einblick in die psychische Verfassung eines Dichters, in seinen gegenwärtigen Schaffensprozess und seine Planungen für die Zukunft, wie z.B. Frischs „Tagebuch 1946–1949“ belegt. Fingierte Tagebücher dienen hauptsächlich als Strukturelemente in Erzähltexten, so z.B. in Daniel Defoes Abenteuerroman „Robinson Crusoe“ (1719, Robinsonade), wo der Ich-Erzähler (Erzähler) als einzig Überlebender eines Schiffbruchs seine verzweifelte Situation durch das Führen eines Tagebuchs erträglich macht, indem er Vorteile und Nachteile seiner Lage abwägt. Tagebuchauszüge fingierten Inhalts finden sich auch in Goethes „Wahlverwandtschaften“ (1809), Eduard Mörikes „Maler Nolten“ (1832) und Uwe Johnsons „Jahrestagen“ (1970–1983).
Eine Sonderstellung nimmt der Tagebuchroman in Ich-Form ein, der auf eine Rahmenhandlung verzichtet und nur die fingierte Niederschrift wiedergibt. In Rainer Maria Rilkes „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ (1910) wird dies an den vom Dichter unkommentierten Eintragungen des fiktiven dänischen Tagebuchschreibers Malte besonders deutlich.
Verwandt ist die Gattung des Tagebuchs mit der Autobiographie, den Annalen, Chroniken und Memoiren.

Formen des Tagebuchs

Beispiel

Franz Kafka
Meine Erziehung (1911)
(Tagebuchauszug)

Oft überlege ich es, und immer muss ich dann sagen, dass mir meine Erziehung in manchem sehr geschadet hat. Dieser Vorwurf geht gegen eine Menge Leute, allerdings sie stehn hier beisammen, wissen wie auf alten Gruppenbildern nichts miteinander anzufangen, die Augen niederzuschlagen fällt ihnen gerade nicht ein und zu lächeln wagen sie vor Erwartung nicht. Es sind da meine Eltern, einige Verwandte, einige Lehrer, eine ganz bestimmte Köchin, einige Mädchen aus Tanzstunden, einige Besucher unseres Hauses aus früherer Zeit, einige Schriftsteller, ein Schwimmmeister, ein Billeteur, ein Schulinspektor, dann einige, denen ich nur einmal auf der Gasse begegnet bin, und andere, an die ich mich gerade nicht erinnern kann, und solche, an die ich mich niemals mehr erinnern werde, und solche endlich, deren Unterricht ich, irgendwie damals abgelenkt, überhaupt nicht bemerkt habe, kurz, es sind so viele, dass man Acht geben muss, einen nicht zweimal zu nennen. Und ihnen allen gegenüber spreche ich meinen Vorwurf aus, mache sie auf diese Weise miteinander bekannt, dulde aber keine Widerrede. Denn ich habe wahrhaftig schon genug Widerreden ertragen, und da ich in den meisten widerlegt worden bin, kann ich nicht anders, als auch diese Widerlegungen in meinen Vorwurf mit einzubeziehen und zu sagen, dass mir außer meiner Erziehung auch diese Widerlegungen in manchem sehr geschadet haben.
Erwartet man vielleicht, dass ich irgendwo abseits erzogen worden bin? Nein, mitten in der Stadt bin ich erzogen worden, mitten in der Stadt. Nicht zum Beispiel in einer Ruine in den Bergen oder am See. Meine Eltern und ihr Gefolge waren bis jetzt von meinem Vorwurf bedeckt und grau, nun schieben sie ihn leicht beiseite und lächeln, weil ich meine Hände von ihnen weg an meine Stirn gezogen habe und denke: Ich hätte der kleine Ruinenbewohner sein sollen, horchend ins Geschrei der Dohlen, von ihren Schatten überflogen, auskühlend unter dem Mond, wenn ich auch am Anfang ein wenig schwach gewesen wäre unter dem Druck meiner guten Eigenschaften, die mit der Macht des Unkrauts in mir hätten wachsen müssen, abgebrannt von der Sonne, die zwischen den Trümmern hindurch auf mein Efeulager von allen Seiten mir geschienen hätte.

Aus: Franz Kafka: Erzählungen. Gesammelte Werke in acht Bänden. Hrsg. von Max Brod. Frankfurt/M. (Fischer) 1983.