(von vulgärlat. breve scriptum „kurzes Schreiben, Urkunde")
an einen abwesenden Adressaten gerichtete schriftliche Mitteilung. Meist handelt es sich um eine persönliche Botschaft an eine Privatperson. Neben dieser privaten Funktion wurde der Brief aber auch als Selbstzeugnis bedeutender Autoren, als offizieller Brief für amtliche Anweisungen und Erlasse oder als (meist politisches) Druckmittel in der Gestalt eines „offenen Briefes“, der sich nur scheinbar an einen bestimmten Adressaten, in Wirklichkeit jedoch an die breite Öffentlichkeit richtet, verwendet.
Franz Kafka
Brief an den Vater (1919)
Auszug
Liebster Vater,
du hast mich letzthin einmal gefragt, warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor dir. Ich wusste dir, wie gewöhnlich, nichts zu antworten, zum Teil eben aus Furcht, die ich vor Dir habe, zum Teil deshalb, weil zur Begründung dieser Furcht zu viele Einzelheiten gehören, als dass ich sie im Reden halbwegs zusammenhalten könnte. Und wenn ich hier versuche, dir schriftlich zu antworten, so wird es doch nur sehr unvollständig sein, weil auch im Schreiben die Furcht und ihre Folgen mich dir gegenüber behindern und weil die Größe des Stoffs über mein Gedächtnis und meinen Verstand weit hinausgeht. [...]
Ich war ein ängstliches Kind; trotzdem war ich gewiss auch störrisch, wie Kinder sind; gewiss verwöhnte mich die Mutter auch, aber ich kann nicht glauben, dass ich besonders schwer lenkbar war, ich kann nicht glauben, dass ein freundliches Wort, ein stilles Bei-der-Hand-Nehmen, ein guter Blick mir nicht alles hätte abfordern können, was man wollte. Nun bist du ja im Grunde ein gütiger und weicher Mensch (das Folgende wird dem nicht widersprechen, ich rede ja nur von der Erscheinung, in der du auf das Kind wirktest), aber nicht jedes Kind hat die Ausdauer und die Unerschrockenheit, so lange zu suchen, bis es zu der Güte kommt. Du kannst ein Kind nur so behandeln, wie du eben selbst geschaffen bist, mit Kraft, Lärm und Jähzorn, und in diesem Falle schien dir das auch noch überdies deshalb sehr gut geeignet, weil du einen kräftigen mutigen Jungen in mir aufziehen wolltest.
Aus: Franz Kafka: Brief an den Vater. Mit einem Nachwort von Wilhelm Emrich. Frankfurt/M. (Fischer) 1988.