Positivismus

(von lat. positivus „gesetzt, gegeben")
In der Wissenschaftstheorie bezeichnet Positivismus den Ansatz, Erkenntnis nur von Fakten, den positiven Tatsachen, abzuleiten. Diese Methode stellt ein zentrales Prinzip der Naturwissenschaften dar, die ihre Erkenntnisse aus Experimenten und Beobachtungen gewinnen. Im 19. Jahrhundert übertrugen die französischen Philosophen Auguste Comte (1798–1857) und Hippolyte Taine (1828–1893) den positivistischen Ansatz auf andere Wissenschaftsdisziplinen. Taine gilt dabei mit seinem Werk „Geschichte der englischen Literatur“ (1864) als Begründer der positivistischen Literaturwissenschaft. Er verstand die Literatur vor allem als ein Ergebnis der Einflussfaktoren race, milieu und moment, d.h. der ererbten Eigenschaften des Autors, seines gesellschaftlichen Umfeldes und der historischen Bedingungen zur Zeit der Entstehung eines literarischen Werkes. Der Germanist Wilhelm Scherer (1841–1886) führte den Positivismus als Leitgedanken in die deutsche Literatur- und Sprachwissenschaft ein. Seine „Geschichte der deutschen Sprache“ (1868) überträgt Prinzipien der darwinschen Vererbungslehre auf die Sprachwissenschaft. Die Kategorien Ererbtes, Erlerntes und Erlebtes sind Grundlage seiner „Geschichte der deutschen Literatur“ (1880–1883). Scherer verstand Literaturgeschichte als einen gesetzmäßigen Wechsel von Blüte- und Verfallszeiten.
Die positivistische Literaturwissenschaft wandte sich gegen jede Spekulation und Metaphysik und sah vor allem im Sammeln, Beschreiben und Klassifizieren die grundlegenden Aufgaben einer objektiven, auf Fakten basierenden Literaturwissenschaft. Ihr Verdienst besteht in der Herausgabe von umfangreichen Dichterbiografien und historisch-kritischen Werkausgaben. Positivistische Methoden haben in diesen Bereichen auch heute noch eine wichtige Bedeutung in der Literaturwissenschaft.
Die Gefahr der positivistischen Methode liegt darin, über Material- und Faktensammlungen nicht hinauszukommen. Der Versuch, naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten in der Literaturgeschichte aufzudecken, konnte die komplexen Zusammenhänge zwischen Geschichte, Gesellschaft und Literatur nicht erklären. Die Grenzen des Positivismus werden auch bei der Interpretation von literarischen Texten deutlich, die sich selten ausschließlich auf empirisch nachweisbare Fakten beziehen lassen.
Um die Jahrhundertwende löste die geistesgeschichtliche Methode den Positivismus als zentralen Begriff der Literaturwissenschaft ab. Vor allem der Philosoph Wilhelm Dilthey (1833–1911) bemühte sich um eine Abgrenzung der Geistes- von den Naturwissenschaften. Einige Richtungen der modernen Literaturwissenschaft tragen, erneut das Faktische betonend, neopositivistische Züge (z.B. Literatursoziologie, Rezeptionsästhetik).

Arbeitsweise der positivistischen Literaturwissenschaft