Episches Theater

eine Form des modernen Dramas, vor allem von Brecht entwickelt, die im Gegensatz zur klassischen Form die Welt als veränderlich darstellt und den Zuschauer zu ihrer Veränderung aufruft: Während im neuzeitlichen Drama der Zuschauer durch „Furcht und Mitleid“ moralisch gebessert werden soll, geht es Brecht um eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse im marxistischen Sinn. Der Zuschauer soll im Bühnengeschehen nicht ein unabänderliches Fatum sehen, sondern mit einer veränderbaren Welt konfrontiert werden und daraus Konsequenzen für das eigene politische Handeln ziehen.
Diese Intention des Theaters erfordert folgerichtig auch eine neue Bauform des Dramas; an die Stelle des streng gebauten fünf- bzw. dreiaktigen Dramas tritt eine lockere Montage einzelner Szenen, die Brecht als „episch“ (Epik) bezeichnet. In diesen Szenen werden dem Zuschauer exemplarische Situationen vorgeführt, die dann durch kritisch-kommentierende Einschübe, etwa in Form eines Erzählers, eines Songs oder durch Spruchbänder und Projektionen „verfremdet“ werden. Dieser Verfremdungseffekt (V-Effekt) soll den Zuschauer in die Lage versetzen, Alltägliches wie Fremdes, Unbekanntes zu sehen und so in seinen Strukturen und Ursachen zu erkennen und zu beurteilen. Die erzeugte kritische Distanz zwischen Betrachter und Handlung verhindert eine Identifizierung mit den Bühnenfiguren und soll den Theaterbesucher nicht für den Ausgang des Stückes interessieren, sondern für den Gang der Handlung („Wie kann dies sein?“). Das Theaterstück braucht keinen eigentlichen Schluss, denn die Lösungen der in ihm aufgezeigten Probleme sollen nicht auf der Bühne von den Schauspielern, sondern im Leben, von den Zuschauern, gefunden werden. Erst durch die (politische) Entscheidung des Zuschauers kommt das Drama zu einem eigentlichen Abschluss.
Brecht entwickelte seine Theorie in mehreren Stufen: Am Anfang stehen die „epischen Opern“ („Die Dreigroschenoper“, 1928; „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, 1928/29); es folgen die provokativen marxistischen Lehrstücke („Der Jasager und der Neinsager“, 1929/30; „Die Maßnahme“, 1930; „Die Mutter“, 1930, u.a.). Den Höhepunkt bilden die großen Dramen der Emigrationszeit („Mutter Courage und ihre Kinder“, 1939; „Leben des Galilei“, 1938/39; „Der gute Mensch von Sezuan“, 1938/40; „Der kaukasische Kreidekreis“, 1944/45).
Brechts ursprünglich nur auf seine eigenen Stücke bezogene Theorie wurde durch Peter Weiss und Heiner Müller weitergeführt.

Siehe auch
Absurdes Theater
Bürgerliches Trauerspiel
Klassisches Drama
Komödie
Tragödie
Volksstück

Epische Form des Theaters (nach Brecht)

Beispiele
Bertolt Brecht: „Mutter Courage“
Bertolt Brecht: „Der gute Mensch von Sezuan“
Max Frisch: „Andorra“

Äußerer Aufbau
lockere Szenen- oder Bilderfolge;
Unterbrechung durch Songs, Erzähler u. a.

Handlung / Spannung
„Spannung auf den Gang“ der Handlung (Wie-Spannung);
häufig offenes Ende

Ort und Zeit
Verzicht auf die Einheit von Ort, Zeit und Handlung (verschiedene Schauplätze, Zeitsprünge, Rückblenden usw.)

Verhältnis Publikum und Bühnengeschehen
kritische Distanz zu den Figuren durch Verfremdung (V-Effekte)

Wirkungsabsicht
Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch im Theater gewonnene Erkenntnis