Surrealismus

(frz. surréalisme „Überrealismus")
nach dem Ersten Weltkrieg in Frankreich entstandene Strömung in der bildenden Kunst und Literatur mit der Zielsetzung das Überwirkliche, nur z.B. im Traum oder Rausch Erfassbare, in seiner Verschmelzung mit der Wirklichkeit zum Ausdruck zu bringen. Der Surrealismus, dem Symbolismus und Dadaismus verwandt, ist der Versuch inmitten einer sich selbst zerstörenden Welt letzte substanzielle Bezirke zu erreichen: eine „Überwirklichkeit“ hinter der von Ratio und Egoismus ausgelaugten Oberfläche. Die verschiedenen künstlerischen Verfahrensweisen, wie Traumassoziationen, automatisches Diktat des Unbewussten, Halluzination, Rauscherlebnisse, sind die Medien dazu, nicht Selbstzweck. Auf den Spuren der Psychoanalyse Freuds wird die Inspiration nicht mehr von oben, sondern aus den Tiefen des Unbewussten erwartet. „Alle sind Dichter, sobald sie dem Unbewussten begegnen“, schreibt André Breton 1924 in dem 1. surrealistischen Manifest und lehnt die traditionellen Formen und Mittel der Dichtung ab. Die Alogik und Bildmächtigkeit des Traumes sind Vorbild der Poesie, sie öffnen den Blick für die Schrecken und das Glück, die dem Sein innewohnen. Die Surrealisten wollen keine neue Kunst, sondern eine intensivere Realität: „Alles zielt dahin zu glauben, dass ein bestimmter Punkt existiert, wo das Leben und der Tod, das Wirkliche und Unwirkliche, die Vergangenheit und die Zukunft, das Aussprechbare und das Unaussprechliche, das Obere und Untere nicht mehr als Gegensätze wahrgenommen werden …“ (André Breton).
Zu den Vorläufern des literarischen Surrealismus gehören Baudelaire, Rimbaud, Apollinaire. Entscheidende Anregungen erhielt er durch die Romantik, vor allem von Novalis. Der Surrealismus hat auch auf die deutsche Literatur ausgestrahlt. Spuren des Surrealismus lassen sich u.a. bei Döblin, Hesse und Kafka finden.

Literaturbeispiel

Franz Kafka
Der Nachhauseweg (1908)

Man sehe die Überzeugungskraft der Luft nach dem Gewitter! Meine Verdienste erscheinen mir und überwältigen mich, wenn ich mich auch nicht sträube.
Ich marschiere und mein Tempo ist das Tempo dieser Gassenseite, dieser Gasse, dieses Viertels. Ich bin mit Recht verantwortlich für alle Schläge gegen Türen, auf die Platten der Tische, für alle Trinksprüche, für die Liebespaare in ihren Betten, in den Gerüsten der Neubauten, in dunklen Gassen an die Häusermauern gepresst, auf den Ottomanen der Bordelle.
Ich schätze meine Vergangenheit gegen meine Zukunft, finde aber beide vortrefflich, kann keiner von beiden den Vorzug geben und nur die Ungerechtigkeit der Vorsehung, die mich so begünstigt, muss ich tadeln.
Nur als ich in mein Zimmer trete, bin ich ein wenig nachdenklich, aber ohne dass ich während des Treppensteigens etwas Nachdenkenswertes gefunden hätte. Es hilft mir nicht viel, dass ich das Fenster gänzlich öffne und dass in einem Garten die Musik noch spielt.

Aus: Franz Kafka: Erzählungen. Gesammelte Werke in acht Bänden. Hrsg. von Max Brod. Frankfurt/M. (Fischer) 1983.